25.06.2022

ADHS-Forschung: Ergebnisse aus dem letzten Jahrzehnt zu neurophysiologischen Problemen

Jahrzehntelang wurde ADHS vorwiegend als eine Störung von Konzentration, motorischer Hyperaktivität und verstärkter Impulsivität beschrieben, Fragebögen wie der von DuPaul oder der DISYPS fragten die zugehörigen Merkmale ab und dienten zum Ein- oder Ausschluss aus Studien. Die Störung exekutiver Funktionen war Thema sehr vieler Untersuchungen, ließen sich diese und deren Störungen doch gut definieren.

Für die behandelnden Ärzte und Therapeuten waren aber immer schon die emotionalen Reaktionen wie Aufbrausen und Rückzug sowie das Durchhaltevermögen auffällig. Gerade die Steuerung der Motivation hatte schon immer das scheinbare Paradoxon, dass Kinder und Jugendliche mit ADHS  bei Aufgaben, die sie interessierten, genauso gut oder besser mitmachten, bei durchschnittlich interessanten Aufgaben jedoch rasch sich stimulieren mussten oder abbrachen.

Aus fMRI-Studien gibt es jetzt neurophysiologische Befunde, die dies erklären. Die Literaturübersicht (1) weist auf Motivationsmangel als eine von ADHS unabhängige Komponente hin. fMRI-Studien zeigen bei ADHS eine verminderte Reaktion dopaminerger Neurone im ventrodorsalen Striatum auf Belohnungsreize. Strukturell-anatomische und funktionelle (fMRI) Anomalien frontokortikaler und subkortikaler Netzwerke persistieren bei ADHS über die gesamte Lebensdauer mit Auswirkungen auf Aufmerksamkeit und Motivation (13).

Was bedeutet das konkret bei der Lösung von Aufgaben? Und warum verbessert eine Behandlung mit angemessener Dosierung von Methylphenidat die Fähigkeiten so deutlich?

Die aufgabenbezogene Modulation des Ruhemodusnetzwerks (default mode network) und inhibitorische Kontrolle bei ADHS waren Inhalt einer sehr interessanten Untersuchung (14). Wirkungen von MPH und Motivation auf die Aufgabenbearbeitung wurden genauer erfasst. War der Anreiz einer Aufgabe gering, dann war die Geschwindigkeit der Aktivierung aus dem   Ruhemodus heraus bei ADHS verzögert in einer gematchten Gruppe von 18 ADHS- und 18 nicht betroffenen Kindern von 9-15 Jahren. Beide Gruppen glichen sich durch motivationale Anreize aber an, aber die Nichtbetroffenen reagierten weniger auf die Anreize. Unter MPH waren keine Aktivierungsunterschiede messbar.

Das Ergebnis entspricht m. E. zwar der Alltagserfahrung. Es ist aber keineswegs banal, dies wissenschaftlich zu sichern. Es erklärt, was gute Eltern und Pädagogen hinbekommen können, aber nicht ständig. Deshalb ist eine individuell angepasste MPH-Therapie sinnvoll und sichert die Mitarbeitsmöglichkeit der betroffenen Kinder unter den verschiedenen Umgebungsbedingungen, wenn die Einnahme kontinuierlich erfolgt.  

Für einen echten Durchbruch halte ich folgende Untersuchung, die 2020 veröffentlicht wurde: "The effect of methylphenidate on social cognition and oxytocin in children with ADHD" von Levi-Shachar et al in Neuropsychopharmacology 45, 367-373.

Kinder mit ADHS leiden häufig darunter, abgewiesen zu werden, und haben Probleme mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Bei der Lösung von Aufgaben, bei denen es um die "theory of mind" (im Folgenden als ToM abgekürzt), also um das Verstehen von Gefühlen, Vorstellungen und Absichten des Gegenübers ging, erzielten sie schlechtere Ergebnisse als nicht betroffene Kinder. Diese Fähigkeit bedingt eine zu mindestens teilweise Integrität dopaminerger und serotonerger Systeme im Gehirn und deren Interaktion mit anderen Neurotransmittern und Neurohormonen. Oxytocin (im Folgenden als OT abgekürzt) unterstützt die Entwicklung und Qualität sozialer Beziehungen, von Nähe und der Erkennung von Gefühlen aus dem Gesichtsausdruck, allgemein erleichtert es die Hinwendung zu sozialen Signalen. Seine Ausschüttung steigt als Antwort auf soziale Interaktionen.

In mesolimbischen Bahnen gibt es Zellen, die sowohl Oxytocin als auch Dopamin ausschütten und für den Bindungsaufbau zuständig sind. Auch die Oxytocin ausscheidenden Zellen im Hypothalamus haben Dopaminrezeptoren. Wenn die Regulationsstörung der Dopamintransporter und Rezeptoren eine wichtige Ursachenkomponente der ADHS ist, dann ist es auch möglich, dass Oxytocin eine Rolle als Vermittler sozialer Defizite spielt, insbesondere für die Theory of Mind.

Einige Studien haben eine negative Korrelation zwischen OT-Serumspiegeln und ADHS-Merkmalen gefunden, jedoch wurden Veränderungen durch soziale Interaktionen bisher nicht gemessen. Die Autoren hatten in einer Voruntersuchung zeigen können, dass schon eine einzelne Methylphenidat-(abgekürzt als MPH)Dosis die Ergebnisse in ToM-Tests verbessert.

In der hier beschriebenen Untersuchung wurde ein doppelblindes placebokontrolliertes Design verwendet. Es wurden die Ergebnisse im ToM-Test und die OT-Konzentrationen im Speichel verglichen bei Kindern mit ADHS und einer nicht betroffenen Kontrollgruppe. Die Wirkung einer einzigen Dosis MPH auf die ToM-Ergebnisse und die OT-Speichel-konzentrationen in der Folge einer sozialen Interaktion wurden ermittelt.

50 ADHS-betroffene Kinder zwischen 6-12 Jahren (28 Jungen, 22 Mädchen, 88% davon Kinder verheirateter Eltern) und 40 Kinder einer gematchten Kontrollgruppe wurden durch die medizinischen Universität Tel Aviv rekrutiert. Alle Untersuchungen fanden in der häuslichen Umgebung statt. Die MPH-Dosis betrug 0.3-0.5mg/kg Körpergewicht. Die OT-Konzentrationen wurden zu drei Zeitpunkten (T) gemessen: T1: am Beginn der Sitzung, T2: 40 Minuten nach MPH-Einnahme, T3 15 Minuten nach einer positiven sozialen Interaktion. Diese bestand in einem fünfminütigem Planungsgespräch für einen Ausflug ("fun day"), in 85% mit der Mutter, in 15% mit dem Vater.

Ergebnisse: Die ADHS-betroffenen Kinder hatten weniger Freunde, schlechtere Schulnoten, höhere ADHS-Symptomscores im SDQ. Im ToM-Test ohne MPH schnitten sie signifikant schlechter ab als die Kinder der Kontrollgruppe. Nach der MPH-Gabe verschwand der Unterschied! Im Baseline-Speichel-OT unterschieden sich die Gruppen nicht. Nach der positiven sozialen Interaktion (Planung des Fun-Day) stieg die OT-Konzentration in der Kontrollgruppe an, aber nicht in der ADHS-Gruppe, nachdem sie Placebo erhalten hatte. Erhielten die ADHS-Kinder nicht Placebo sondern MPH, zeigten sie die gleichen OT-Zunahmen wie die Kinder der Kontrollgruppe! MPH sorgt also für die Erhaltung der OT-Reaktivität in positiven sozialen Interaktionen.

Wenn man sich die Lerngeschichte ADHS-betroffener Kinder in Bezug auf soziale Interaktionen vorstellt und an die ausbleibende OT- Reaktivität denkt, erklären sich soziale Lern- und Verhaltensdefizite.

Meine Bewertung: Stimulanzien vermindern negative soziale Interaktionen und verbessern die sozialen Beziehungen bei Kindern mit ADHS und verbessern nicht nur die exekutiven Funktionen. Die Behandlung mit MPH ermöglicht den Wiedergewinn der OT-Reagibilität und kann deshalb als elementar für soziale Habilitation und Rehabilitation von Kindern mit ADHS angesehen werden.

 Literatur:

  1. Postgrad Med. 2013 Jul;125(4):47-52. doi: 10.3810/pgm.2013.07.2677. Are motivation deficits underestimated in patients with ADHD? A review of the literature. Modesto-Lowe V(1), Chaplin M, Soovajian V, Meyer A. (1)Connecticut Valley Hospital, Middletown, CT, USA. modesto-lowe@ct.gov
  2. 2012 Feb;48(2):194-215. doi: 10.1016/j.cortex.2011.04.007. Epub 2011 Apr 27. A review of fronto-striatal and fronto-cortical brain abnormalities in children and adults with Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD) and new evidence for dysfunction in adults with ADHD during motivation and attention. Cubillo A(1), Halari R, Smith A, Taylor E, Rubia K. Department of Child Psychiatry, Institute of Psychiatry, King's College, London, UK.

Neuropsychopharmacology 45, 367-373.The effect of methylphenidate on social cognition and oxytocin in children with ADHD. Orit Levi-Shachar1,2, Hila Z. Gvirts 3, Yiftach Goldwin2, Yuval Bloch1,2, Simone Shamay-Tsoory4, Orna Zagoory-Sharon5, Ruth Feldman5 and Hagai Maoz1,2 1Sackler School of Medicine, Tel Aviv University, Tel Aviv, Israel; 2Shalvata Mental Health Center, Hod-Hasharon, Israel; 3Department of Behavioral Sciences and Psychology, Ariel University, Ariel, Israel; 4Department of Psychology, Haifa University, Haifa, Israel and 5Baruch Ivcher School of Psychology, Interdisciplinary Center, Herzlia, Israel Correspondence: Hagai Maoz (hagaima@gmail.com)